Die „Sargfabrik“ als wunderbarer Kulturbetrieb

Ein Besuch in den verbliebenen Hallen der stillgelegten Sargfabrik in Atzgersdorf war ein Erlebnis, welches uns lange in Erinnerung bleiben wird. Als wir uns einen Termin in der Kulturfabrik „F23“ ausmachten, welche gegenwärtig die historischen Räumlichkeiten in der Breitenfurter Straße 176 beleben, wurden wir von Projektleiter Herrn Erich Sperger herzlich empfangen.

Er führt uns durch die hohen und weiten Hallen, wo verschiedene Kulturschaffende ihre modernen Skulpturen und Bilder ausstellen, wo auch heute Theatervorführungen stattfinden. Ein buntes und belebendes Programm füllt die Hallen und eine freundliche Atmosphäre hängt in der Luft, wo einst in den Jahren 1966 - 2015 traditionsgemäß Särge zusammengezimmert wurden.

Um die Jahrhundertwende war in dieser 1913 erbauten Fabrik ursprünglich eine Kisten- und Kofferfabrik (E. Koffmahn) untergebracht (Siehe auch Beitrag bei Lost Places), später zog die „Städtische Bestattung“ in diesem großen Fabrikskomplex ein. Der Ziegelbau mit seinem markanten eckigen Wasserturm, schon von weitem ein Lichtblick, wurde nun ein florierendes Sargunternehmen. In den Gängen der Werkstatt wurden im Lauf der Zeit nicht nur für den Standort Wien Holzsärge auf immer moderneren Produktionsmaschinen hergestellt, sondern bald aus österreichweit der Bedarf an Särgen gedeckt. 1976 erreichte die Produktion mit 52.000 Särgen einen jährlichen Spitzenwert. 1987 verließ der zweimillionste Sarg die Fabrik. Rund 450 verschiedene Modelle standen auf der Produktpalette. Als wir durch die Räume gehen sind auf den Boden noch die Begrenzungslinien der Fahrstraßen zu sehen, wo rund um die Uhr die Maschinen arbeiteten.

Heute stehen interessante und für uns etwas bizarre Skulpturen von Künstler/innen in den Gängen, die zwar nichts mit der Sargproduktion zu tun haben, doch aber das Flair von ehemaligen Fabriksräumen eine besondere Note geben. Auch das heutige Interieur, die aufgestellten bunten Sofas und Klaviere beleben die grauen Hallen. So konnten wir die Szenerie in wunderbaren Fotos einfangen. Nun, im Oktober  wird die Ausstellung „Nur eine Lücke in der Zeit“ präsentiert und die Kammeroper „Die Verbesserung der Welt“ mit Orchester locken kulturbeflissene Besucher an. Wir staunen über den Kontrast.

Wir haben schon viele stillgelegte Fabriken besucht und inspiziert. Viele sind leer und devastiert und präsentieren sich in einem trostlosen Zustand. Ganz anders diese phantastische Fabrik in Atzgersdorf, wo sich nun die Gegenwartskultur etabliert hat. Die Produktion der Särge wurde im Jahre 2013 eingestellt. Dank der Initiative der Gründung der „F23“ Interessensgemeinschaft ist dieser Ort etwas Besonderes geworden. Stets überrascht uns die heutige Nutzung vieler Räume:

Wir stehen vor einer blauen Metalltüre, an der das Schild "Speisesaal" zu lesen ist. Höchstwahrscheinlich befand sich dahinter ein großer Raum, wo seinerzeit die Mitarbeiter des Werkes ihre verdienten Pausen abhielten. Beim Eintreten standen wir inmitten eines Vorzimmers einer Wohnung, welche sprichwörtlich aus der Zeit gefallen zu sein schien. Am Ende des kleinen Flurs, befand sich ein Zimmer mit einem Doppelbett, welches im Stil der 1960er Jahre eingerichtet ist. Liebevolle Accessoires schmückten den Raum. Ebenso präsentierte sich der nächste Raum im Retro-Stil. Bei genauerem Betrachten der Räume entdeckten wir viele drapierte Kunstwerke, welche ganz und gar nicht in die Zeit der 1960er Jahre passten. Welches Geheimnis verbirgt sich in dieser seltsamen Wohnung? Wir wurden aufgeklärt. Der damalige Speisesaal wurde vor ein paar Jahren für mehrere Fernsehproduktionen zu einer Wohnungskulisse umgebaut. Es sollen sich hier bereits namhafte Darsteller eingefunden haben, welche beispielsweise für Serien wie „Soko Donau“ oder „Tatort“ in diesen Räumen auf Spurensuche gingen. Die Kulissen und Staffagen sind verblieben. Seither werden diese adaptierten Kulissenräume auch für diverse Kunstausstellungen genutzt. Und so entstehen für uns heute bizarre Fotomotive; reizvolle Anblicke einer scheinbaren historischen Wohnung, vermischt mit moderner Kunst. Ein Rundgang durch die Fabrik, wo Kunst und Kreativität, hinter jeder Ecke vorhanden ist, lohnt sich. Interessant sind auch die verbliebenen Wasch- und Duschräume, wo die Zeit wirklich stehen geblieben ist.

Von den Duschräumen ging es weiter in die unterirdischen Hallen der Fabrik, welche ursprünglich als Materiallager dienten. Auch im Keller entdeckten wir die verbliebenen, gelben Linien, welche die damaligen Geh- und Fahrwege signalisieren. Die großen Hallen im Untergrund werden nun von verschiedenen Vereinen und Firmen als Lager genutzt, so entdeckten wir auch jede Menge Filmrequisiten, welche im Laufe der letzten Jahre für Theater- und Opernproduktionen angefertigt und verwendet wurden. Besonders ins Auge fällt uns ein roter Kinderwagen, welcher aus der Zeit der Großeltern stammt.

Wir konnten auch einen Blick in die ehemaligen Luftschutzräume unter dem Direktionsgebäude werfen. Hier unten sind noch drei Luftschutztüren (Fabrikation: Mannesmann-Werke Wien) und zwei Eisenhalterungen von Sitzbänken verblieben, die die letzten Relikte des Zweiten Weltkrieges sind. Die Fabrik hat den Bombenkrieg gut überstanden, zumal es keine Zerstörung der Hallen zu bemerken gab. Vor ein paar Jahren wurde aber Teile der Fabrik, so etliche Hallen abgerissen, um neuen Wohnbauprojekten zu weichen.  Das zentrale Gebäude steht aber inzwischen unter Denkmalschutz und ist ein schmuckes Wahrzeichen des Bezirks geworden.

 

 

Herr Sperger erzählte uns auch eine interessante Geschichte bezüglich der Werkssirene, die wir hier auch erwähnen möchten. Noch Jahre nach der Stilllegung der Sargfabrik heulten in den Hallen täglich die Pausensirenen, die niemand abzustellen vermag. Niemand wusste wo sich der Schaltkasten befand. Wir können uns schon vorstellen, dass das permanente Heulen, zu unpassenden Zeiten, nervte. Eines Tages kam es dem ehemaligen Betriebsleiter in den Sinn, den Elektrokasten hinter einem Safe wiederzuentdecken und abzuschalten. 

(Marcello La Speranza und Lukas Arnold)