Ein Tag in Budapest

Von Luftschutzblenden, Bunker und einer gigantischen, verlassenen Lokhalle.

 

An einem Sonntag im Februar 2020, 4.30 Uhr in der Nacht. Der Wecker läutete, aber nicht, weil ich zur Arbeit musste, sondern weil ich mich für einen Tagesausflug ins wunderschöne Budapest entschieden hatte. Pünktlich um 5.50 Uhr setzte sich der Flixbus in Bewegung und rollte in Richtung der ungarischen Hauptstadt. Gemeinsam mit Nadine, einer Bekannten, mit welcher ich schon mehrere erfolgreiche lostplace Touren unternommen habe ging es in unser schönes Nachbarland. 

Das Ziel unseres Tagesausflug galt einen »Lost Place«-Juwel der Superlative zu erkunden: Eine alte, verlassene Lokhalle.  Dass ich schlußentlich nicht nur dieses Objekt, sondern darüber hinaus noch Vieles mehr zu sehen bekommen würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Pünktlich um 9.00 Uhr kam der Bus in Budapest an. Mit der Straßenbahn ging es quer durch diverse Außenbezirke der Stadt.

Beim Vorbeifahren entdeckte ich ganz zufällig zwei Hochbunker, welche sogleich mein Interesse weckten. Dazu aber später mehr.

Die Reise ging zunächst weiter und die Reisenden gelangten nach 45 Minuten zu unserem Zielort. Von einer Brücke aus, konnte ich schon die riesige verfallene Lokhalle sehen. Das Dach war schon halb abgedeckt und überall standen Züge herum. Umso näher wir zu diesem gigantischen „Lost Place« kamen, desto höher schlug mein Herz. Im Außengelände begannen wir zunächst einmal die dort abgestellten, schon sehr stark beschädigten Waggons zu begutachten. Die meisten waren komplett ausgeräumt und verwüstet. Es hat mich umso mehr gefreut, dass in einem Waggon sogar noch die komplette Einrichtung und die einzelnen Abteile sichtbar waren. Trotz des reichlich vorhandenen Schmutzes wirkte es so, als wenn der Zug nach einer gründlichen Inspektion und Reinigung jeder Zeit gleich wieder losfahren würde.

Es war ein seltsames Gefühl: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, als wenn sie den alten Waggons und den Lokomotiven Mut zusprechen wollten, da diese bereits seit mehreren Jahrzehnten vor sich hinrosteten und auf einem Abstellgleis stehen. Als

wir die verwaisten Waggons begutachtet und fotografiert hatten, gingen wir ins Innere der Halle. Der Anblick haute mich im wahrsten Sinne des Worte fast um: Ich stand in einer riesigen Halle; am Boden schlängelte sich der Efeu entlang und viele

Sträucher und Büsche wuchsen inmitten dieses Gebäudes. Wir Besucher standen inmitten eines riesigen Sammelsuriums

von Artefakten aus den verschiedensten Epochen. Dampflokomotiven und Waggons aus der Zeit um die Jahrhundertwende bis hinzu moderneren Eisenbahnfahrzeugen. Es war gewissermaßen wie in einem Verkehrstechnischen Museum; aber zugleich doch ganz anders!

In vier Reihen standen die abgestellten historischen Relikte in Reih und Glied neben- und hintereinander. Ich konnte mein Glück

gar nicht fassen, endlich diesen, in den einschlägigen Kreisen sehr bekannten "Lost Place", mit eigenen Augen zu Sehen und zu Erkunden. Im Internet kursieren zahlreiche Fotos und Videos über diesen Bahnhof. Der Ort wird teilweise auch unter mit dem Namen "Roter Stern", „Red Star trainyard“ geführt. Warum der Bahnhof so benannt wurde, war mir schlagartig klar, als ich vor einer ungefähr vier 4 Meter hohen Dampflok stand, die mit einem riesigen roten Stern auf der Vorderseite ausgestattet war. Die Lok wirkte wie ein Riese, der versteinert worden war! Alleine die Räder hatten eine Höhe von ungefähr anderthalb Meter.  Es war sehr beeindruckend, aber irgendwie auch beängstigend, so Nahe vor solch einem Riesen zu Stehen.

 

Ich ging bis ans Ende der weitläufigen Halle und entdeckte verwundert auch viele Autowracks, welche einfach hier abgestellt worden sind. Es wirkte wie in einem Katastrophenfilm aus Hollywood, als ob wenn die Menschheit ausgerottet worden war und die Natur sich den kompletten Ort zurückgeholt hatte. In Zeiten wie diesen - Corona - erzeugte dieser Gedanke in mir ein mulmiges Gefühl. Nun war es Zeit zurück in die Stadt zu fahren.

Mit dem Zug ging es in das Zentrum von Budapest zurück. Die Sonne strahlte auch weiterhin an diesem warmen Februartag in vollem Glanz. Wir spazierten über die Promenade am Donauufer entlang, als mir plötzlich ein Haus ins Auge fiel, bei dem an der Fassade kompakte Metallverschläge angebracht waren. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich hierbei um zwei Luftschutzblenden handelte, welche höchstwahrscheinlich im Zweiten Weltkriegs eingebaut worden waren und damals als

Notausstiege dienten. Wir spazierten weiter, als ich unerwartet auf einem Platz eine seltsame blaue Tür erblickte. Die Tür war dick und massiv. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich auch die charakteristischen Zargen, welche unverwechselbar darauf hinwiesen, dass es sich hierbei um eine massive Stahl-Luftschutztür handelte, die höchstwahrscheinlich ebenso aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammte. Ich war überrascht, wie viele Relikte aus dieser Zeit noch heute in Budapest zu finden sind.

Nach einer kleinen Stärkung entschieden wir uns ein wenig Sport zu machen und stiegen die steilen Stufen und Straßen zur der

Fischerbastei hinauf, denn schließlich darf bei einem Budapest Besuch die Besichtigung dieser Sehenswürdigkeit nicht fehlen. Bei der Bastei tummelten sich schon hunderte Touristen, welche alle das schöne Wetter ausnutzten und hier auch Fotos und Selfies zu machen. Vorbei an den Menschenmassen gingen wir in Richtung Schloss. Nach ein paar Minuten erreichten wir den Haupteingang. Als wir ein paar Schritte weitergingen, fiel mir ein Gebäude auf, welches an der Fassade massive Schäden aufwies. Bald war klar, dass es sich hierbei wahrscheinlich auch um einige der letzten Spuren des Krieges handeln musste. Die Beschädigungen stammten von Einschüssen bzw. von Granatsplittern. An einer Stelle des Gebäude war noch eine Erläuterungstafel angebracht, worauf stand „Memento 1944 + 1945".

Wir spazierten durch den großen Park, genossen den wunderbaren Blick über die Stadt und fuhren anschließend allmählich langsam wieder in Richtung Busbahnhof zurück. Auf dem Weg dorthin kamen wir wieder bei den beiden Bunker vorbei, welche ich schon bei der Hinfahrt entdeckt hatte.  Diese wollte ich mir unbedingt noch genauer anschauen. Der erste dieser Hochbunker befand sich in einem Industriegebiet und war leider nur von außen über die Mauer zu begutachten. Weiter ging es zu dem zweiten Bunker. Dieser löste bei mir einige Fragen und Überlegungen aus, denn auf dem Bauwerk waren einige sonderbare Kunstwerke angebracht. Handelte es sich hierbei vielleicht gar nicht um einen Bunker, sondern um ein Museum? Oder wurde dieser Bunker einfach nur zu einem großen Kunstwerk umgestaltet? An den Außenwänden über den Eingängen waren sonderbarerweise Eisenbahnwaggons angebracht. Auch auf der Längsseite war ein großer Eisenbahnwaggon mit mehreren Ketten zu sehen, welche sich über die halbe Fassade schlängelten. Ebenso zierten mehreren gusseisernen Skulpturen das Gebäude.

Die Zugänge in den Luftschutzbunker waren mit massiven Türen versperrt. Auch mehrere Lüftungsrohre ragten aus dem stattlichen Bauwerk heraus. Meine nächste Vermutung:  War der Bunker während des "Kalten Krieges" zu einem ABC-Bunker umfunktioniert worden? Neben der massiven Türe befand sich ein großes Schild mit der Aufschrift: „Malenkij Rrobot Mmagyar Nnemzeti Mmuzeum«“. Da der Text komplett in Ungarisch geschrieben war, recherchierte ich im Internet. Ich fand schnell heraus, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Mahnmal handelte und sich im Inneren des umgewidmeten Bunkers eine Zweigstelle des ungarischen Nationalmuseums befand. Was die großen angebrachten Eisenbahnwaggons an der Fassade bedeuten sollten wurde durch die Internetrecherche auch bald klar. Das Mahnmahl und die Ausstellung beleuchten die „Malenkij Robots". Sie erinnern an die tausenden ungarischen Zivilisten, die noch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den unmittelbaren Jahren

danach von den Sowjets gefangen genommen und in die Sowjetunion gebracht worden waren. Die Absicht bestand darin, die deportierten Menschen als Zwangsarbeiter einzusetzen, um so rasch die zerstörten Städte in der UdSSR wieder aufzubauen.

 

Mittlerweile war die Sonne untergegangen und ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass es nun Zeit war wieder nach Hause nach Wien zu fahren. Diesen Tag in Budapest mit den vielen Überraschungen werde ich so schnell nicht mehr vergessen.

 

Text und Fotos: Lukas Arnold