
Es war an einem der letzten Spätsommertage im Jahre 2020 als wir (Stefan, Brigitte und ich) uns auf den Weg machten, die noch verbliebenen Spuren rund um das Konzentrationslager Gusen in Oberösterreich zu besuchen. Brigitte hatte es schon im Frühjahr eingefädelt einen Termin für eine Besichtigung der dortigen Stollenanlagen zu bekommen, da zurzeit nur einmal im Jahr für Besucher die Möglichkeit besteht, den Konzentrationslager angeschlossenen, unterirdischen Rüstungsbetrieb „Bergkristall“ aufzusuchen. Stefan Andert hatte sich ebenfalls schon vorher auf die Ausfahrt vorbereitet und recherchiert, was in der Umgebung noch historisch Interessantes zu erkunden wäre. Da gebe es neben dem „Memorial“ und dem Stollen, wo Teile der Düsenjägers „Me 262“ hergestellt wurden, doch noch sehenswerte Relikte, die nur Insidern bekannt sein dürften. Wir fuhren dementsprechend zeitig am Vormittag mit Stefans Auto von Wien, Richtung Gusen.
Die Gedenkstätte und das Krematorium
Während der NS-Zeit wurden auf dem Areal des ausgelöschten Österreichs eine Reihe von Konzentrationslager errichtet wo tausende Häftlinge, die laut der NS-Ideologie als unwertes Leben systematisch getötet wurden bzw. als Zwangsarbeiter in Steinbrüchen oder diversen Industriebetrieben eingesetzt wurden, um in der Rüstungsindustrie den Fortbestand des „Dritten Reiches“ voranzutreiben. Das wohl bekannteste dieser unmenschlichen Konzentrationslager in Österreich dürfte wohl Mauthausen sein. Es war das Hauptlager dem jedoch mehrere Lager (insgesamt 41 Lager) angeschlossen waren, so auch Gusen mit drei Komplexen (Gusen I - III), wo jedoch in Summe mehr Inhaftierte als in Mauthausen registriert waren.

Zunächst wurde in Gusen ein Lager errichtet, wo in Steinbrüchen, betrieben von der DEST-Werke (Deutsche Erd- und Steinwerken), die Häftlinge so geschunden wurden, so die Sterberate enorm in die Höhe schnellte, sodass bereits 1941 vor Ort ein eigenes Krematorium gebaut wurde. Wir wissen, dass nach dem Krieg nach und nach die Lagerhäuser des KZ abgetragen wurden und sich die Anrainer nicht wirklich für eine nachhaltige Gedenkstätte interessierten. Als in den 1950/60 Jahren auch die Reste des ehemaligen Krematoriums Gefahr liefen beseitigt zu werden, starteten Überlebende des KZ Gusen aus Frankreich, Italien und Belgien mit Spendengeldern eine Initiative zum Ankauf des Grundstückes und zur Errichtung eines Memorialbaues, wo im Zentrum der verbliebene Ofen stehen bleiben sollte.

Das Betreten der Halle wo der große doppelte Verbrennungsofen steht hinterlässt eine betretene, nachhaltende und nachdenkliche Gefühlsregung. Die kalte Atmosphäre bedrückt. Die Wände des umgebenden Memorialbaues sind mit Erinnerungstafeln der hier ermordeten Menschen gepflastert. Überall sind Kränzen und Blumengestecke zu sehen. Die vielen, vielen Porträtbildchen der Opfer der NS-Mordmaschinerie blicken uns entgegen. Die angezündeten Kerzen, die direkt in den Einäscherungsöfen stehen und die dortigen rußgeschwärzten Ziegelwände bedrücken. Eine Tafel (1965) im Bauwerk klärt auf und mahnt: „In dieser Umfriedung an der selben Stelle an der es unter dem Naziregime errichtet wurde steht noch das Krematorium von Gusen I und Gusen II der mörderischsten Nebenlager des KZ-Mauthausen. Von 1940 bis 1945 sind mehr als 37.000 Patrioten vieler Nationen nach erleiden grausamster körperlicher und seelischer Qualen hier eingeäschert worden. Sie sind gestorben für die Unabhängigkeit ihrer Länder, für die Freiheit, für das Wohl der Menschen. Möge die Erinnerung an ihr Opfer den Lebenden ewige Verpflichtung bleiben.“

Das unterirdische Flugzeugwerk „Bergkristall“
Wenige hunderte Meter westlich des Lager I wurde im Frühjahr 1944 das Lager II errichtet wo es galt, in einem riesigen Stollenkomplex ein effizientes und innovatives Flugzeugwerk zu schaffen. In den unterirdischen Hallen sollten fließbandmässig Rümpfe und Tragflächen des Standartjägers „Me 109“ und in weiterer Folge Teile des zukunftsträchtigen Düsenjäger „Me 262“ fabriziert werden. Wir und auch eine kleine Gruppe von ebenfalls angemeldeten Besuchern konnten einen kleinen Teil des heute geöffneten Stollens inspizieren. Wir waren ein wenig enttäuscht, da wir nur wenige hunderte Meter des Stollens (der rund 45.000 Quadratmeter großen Anlage) aufsuchen durften. Was wir sahen war, dass der Teil inzwischen Großteils gesichert und mit neuer Beleuchtung ausgestattet ist. Coronabedingt wurden wir in Kleinstgruppen und mit Abstandhaltung ettapenweise nur zu ausgewiesenen Bereiche zugelassen. Es wurde uns mitgeteilt, dass ein längeres Betreten der Stollen nicht gestattet werde, da auch eine Strahlungsgefährdung von „Radium“ im Raume hing. Moderne Belüftungsmaschinen seien vor jedem Besuch zuvor im Einsatz, um die Strahlungsbelastung im Griff zu bekommen. So wurden wir von Bediensteten der Anlage begleitet.
Die Reste der Großbunkeranlage sind seit 2001 im Besitz der BIG (Bundesimmobiliengesellschaft). Bereits in den nächsten Jahren wurden Sicherungsmassnahmen durchgeführt und weite Teile des einsturzgefährdeten Stollensystems verfüllt.
Von der Angestellten des „Gedenkdienstkomittee Gusen“ die uns in den Stollen führte, Informationstafeln und Begleitbroschüren erfuhren wir, dass der unterirdische Komplex unter grausamen Bedingungen in nur 13 Monaten Bauzeit von tausenden KZ-Häftlingen errichtet worden war. Die Amerikaner hatten im Frühjahr 1945 das Lager befreit und die Stollen sogleich gesichert. Sie hielten jedoch Abstand das gigantische unterirdische Rüstungswerk zu sprengen, staunten über die einzigartige Produktionsstätte und bewunderten die Logistik der militärischen Fertigungsschiene. Über den Anblick und die körperliche Kondition der verbliebenen ausgemergelten Überlebenden der Häftlinge, die die Amerikaner vorfanden, waren die Befreier freilich jedoch entsetzt. Sie verbrannten vorsorglich die umgebenden Lager und Baracken, wo sich Seuchen ausbreiten konnten. Festzuhalten wäre noch, dass die später eingetroffenen Russen, die das Lager laut alliierter Übereinkunft übernahmen, fast alle noch verbliebenen Betriebseinrichtungen aus der Anlage entfernten und abtransportierten, mit mehreren Sprengungen das Werk restlos zerstören wollten. Restlos konnte die riesige kompakte Anlage jedoch nicht vernichtet werden. Einige Stollen wurden nach 1955 von den Anrainern lange als Champignonzucht genutzt. Die geborene Idee eines Atommüll-Lagers wurde jedoch nicht umgesetzt.

An dem Tag unserer Besichtigung wurde auch das neben dem heute zugänglichen Stolleneingang errichtete „Haus der Erinnerung“ eröffnet, wo nun am 25. Oktober 2020 regionale und ausländische Prominenz zugegen waren. Hier selbst sind kaum greifbare Relikte der Vergangenheit präsent, was wir kurzerhand dort erfahren konnten. Wir besuchten das wirklich sehenswerte „Heimathaus“ im Ort (Färbergasse 4), wo wir mehrere Informationen einholen konnten, uns länger aufhielten und wo eine Reihe von Relikten aus den Stollen (Kabel der elektrischen Beleuchtung) und geborgene Flugzeugteile der „Me 262“ (verschiedene Bordinstrumente, Druckluftflaschen, etc.) ausgestellt sind. Wir erfuhren von den netten Betreibern, dass in der Nähe auch noch ein gesprengter Lüftungsturm zu entdecken wäre, der verborgen in einem Wäldchen am Stadtrand noch verblieben ist.

Bauliche Relikte und verborgene Spuren
Der gesprengte Lüftungsturm oberhalb des unterirdischen Rüstungsbetriebes „Bergkristall“ ist ein imposantes Zeugnis des einstigen Verwaltungsbetriebes der sich in und um Gusen ausbreitete. In den Nachkriegsjahren dürften nach und nach etliche der baulichen Hinterlassenschaften des Werkes von den Alliierten gesprengt worden sein. Viele Zeugnisse der NS-Herrschaft wurden auch beseitigt, um für Platz für neue Nutzungen (Wohngebäuden) zu schaffen. Jahrzehntelang wurde die Geschichte das durch die NS-Vergangenheit kontaminierte Gelände rund um Gusen auch betulich verschwiegen und stillschweigend sprichwörtlich „unter dem Tisch gekehrt“. Erst in den letzten Jahren wurde die furchtbare Geschichte, die mit diesem Ort verbunden ist ans Tageslicht gehoben und von verschiedenen privaten und staatlichen Gedenkinitiativen gepflegt und wissenschaftlich aufgearbeitet.
Als wir uns dem gesprengten Betonturm im Dickicht der Bäume näher ansahen, waren wir von der Größe beeindruckt. Mir persönlich war dieses „vergessene“ - nicht ausgewiesene - Relikt aus der NS-Zeit eine besondere Markensetzung. Der brutale zerborstene Beton und die zerrissene Stahlarmierung spiegeln das Grauen eines Vernichtungspotential einer Zeit in der Menschenleben so leicht zerbrochen werden konnten.
Wir inspizierten noch weitere Relikte dieser Zeit, die ein anderes Schicksal bzw. Nachnutzung erfahren haben. Wir wären an der schmucken Villa knapp vorbeigefahren, hätte Stefan nicht im Vorfeld recherchiert, dass das einstige Einfahrtsgebäude des KZ-Gusen noch exisitiert. Das Gebäude, genannt „Jourhaus“, wurde 1941 errichtet, im Jahre 1965 durch die Republik Österreich verkauft und in weiterer Folge zu einer privaten Villa umgestaltet.
Wir hielten auch vor dem einstigen Bürogebäude der „DEST“, welches heute als Wohnhaus in Verwendung steht. Wir konnten uns das Foyer ansehen, welches noch mit der alten Täfelung und des hölzernen Treppengeländes ganz im Stil des damaligen modernen Heimatstiles ausgestattet ist. Ein Blick in den Keller war auch interessant, zumal dort noch die alten Luftschutztüren mit den typischen Zargen verblieben sind. Es sind zwar provisorische Luftschutztüren aber doch wichtige Relikte „in situ“. Auf einer Tür springt uns die handschriftliche Vermerk in die Augen: „24. 10. 45“; möglicherweise der Tag, als die Siegermächte das ehemalige NS-Gebäude in Beschlag nahmen?
Bevor wir unser Heimreise antraten hielten wir auch noch vor den verbliebenen Mannschaftsgebäuden der SS, die sich direkt neben dem „Jourhaus“ befinden. Die langgezogenen Häuser wirken schäbig, sind leer und besitzen den Mief der unguten Vergangenheit, die hier auch zu spüren ist.
(Marcello La Speranza)